WAS WAR? |
Empires rise and fall. Imperien steigen auf und dann zerbrechen sie. Ein kurzer Satz, doch seine Bedeutung kann man gar nicht groß genug einschätzen. Geschrieben hat ihn der britische Historiker Paul Kennedy schon vor mehr als 30 Jahren in einem bahnbrechenden Werk, in dem er die Entwicklung großer Reiche wie der Habsburgermonarchie, der britischen Kolonialmacht, des Deutschen Reiches und der Sowjetunion verglich. Überall beobachtete Kennedy denselben historischen Verlauf: Aufstieg – Überdehnung – Erschöpfung – Abstieg. Für seine These hat er unzählige Indizien, Belege und Beobachtungen gesammelt und dabei stets denselben Grund für den unvermeidlichen Niedergang gefunden: Immer sei es die Ökonomie, die einer Großmacht irgendwann die Grenzen aufzeigt, meint er. Die These ist umstritten, aber bestechend: Auf Dauer lässt sich ein Riesenreich mit vielen Millionen Einwohnern, mit globalem Machtanspruch und daher auch globalen Problemen nicht stabil regieren, ohne wirtschaftlichen Schaden zu nehmen. Kennedy führte die Gedanken früherer Historiker weiter, etwa jene des großen Edward Gibbon, der den Untergang des Römischen Reiches seziert hatte. |
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Am Zerfall des Römischen Weltreichs können wir sehen, was zum Katalysator eines Machtverfalls werden kann: eine zweite, etwa gleichstarke Macht, der man in Rivalität verbunden ist und dabei durch permanente Konflikte seine Kraft verschleißt. Bei den Römern nahm das Persische Reich diese Rolle ein. Ständige Feldzüge leerten die Staatskasse, lähmten notwendige Reformen und zogen die Aufmerksamkeit der Herrscher von einem anderen existenziellen Problem ab: An den Nordgrenzen wurden die Germanenstämme immer frecher; irgendwann waren sie nicht mehr aufzuhalten. Schätzungen zufolge fraßen die Militärausgaben 80 Prozent des römischen Haushalts auf, das hält kein Staat ewig aus. So kam es, verstärkt durch innenpolitische Konflikte, Korruption und die Dekadenz der Führungselite, dass nicht einmal die technischen, kulturellen und gesellschaftlichen Errungenschaften das großrömische Reich vor seinem Zerfall bewahrten. Die Römer hatten ein hochspezialisiertes Bankwesen, eine effektive Bürokratie und mehrstöckige Häuser mit Zentralheizung. Sie hatten Waffenfabriken, Elitearmeen und ein pragmatisches Religionssystem, das lokale Gottheiten von Minderheiten integrieren konnte, solange sie nicht die Allmacht des Kaisers infrage stellten. Sie hatten kühne Politiker, gewiefte Imageberater und brillante Geschichtsschreiber, aber noch nicht einmal denen fiel eine Antwort auf die Frage ein, wie sich das Reich retten ließ, als es den Höhepunkt seiner Macht überschritten hatte. All die Errungenschaften und hochmögenden Persönlichkeiten konnten das Ende nicht aufhalten. Empires rise and fall. |
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Fotos verboten: Ein Soldat der chinesischen Volksbefreiungsarmee weist einen Fotografen vor der Großen Halle des Volkes in Peking in die Schranken. (Quelle: Roman Pilipey/Pool European Pressphoto Agency/AP/dpa) |
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Geschichte wiederholt sich nicht, und jede Epoche hat ihre eigenen Prämissen, Einflüsse und Überraschungen, trotzdem können wir uns einen Vergleich des Heute mit dem Gestern erlauben. Die einzige gegenwärtige Weltmacht sind die USA; militärisch, technologisch und auch beim Kulturexport kann bislang niemand den Amis das Wasser reichen. Amerikanische Geschosse und Kampfdrohnen können binnen Stunden jeden Flecken auf dem Globus erreichen, während der US-Raketenschutzschild jeden Angriff abwehren kann. Die kalifornischen Tech-Konzerne Google, Facebook und Amazon dominieren das globale Geschäft der Kommunikation, der Werbung und des Online-Handels. Nach ihrer Pfeife tanzen ganze Wirtschaftsbranchen, auch in Deutschland. Amerikanische TV-Serien, Kinofilme, Popsongs und Modestile prägen unser Freizeitleben. All das wird sich so schnell nicht ändern, aller Kritik an Amerikas Vorherrschaft und aller Kulturskepsis zum Trotz. |
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Doch langsam beginnen die Gewichte auf der globalen Waage sich zu verschieben: Die von den USA angeführte Macht des Westens verliert an Einfluss, der Osten gewinnt. Grund dafür ist der rasante Aufstieg Chinas aus einer Hunger- in eine Leistungsgesellschaft. Fast eine Milliarde Menschen haben die kommunistischen Turbokapitalisten binnen weniger Jahrzehnte aus der Armut geholt – eine beispiellose Erfolgsgeschichte, die allerdings teuer erkauft ist: mit dem Primat des Kollektivs über das Individuum, einer totalitären Diktatur, einem digitalen Überwachungsstaat und brutaler Umweltzerstörung. An der Spitze des Systems steht ein ebenso schlauer wie skrupelloser Mann, der seine Macht und seine Vision in diesen Tagen von den 3.000 Claqueuren des Volkskongresses abnicken lässt: "Die Sonne scheint einzig und allein auf Xi Jinping, den zweiten Mao, für den etliche Gesetze nicht gelten, die für seine Vorgänger galten. Er will länger an der Macht bleiben, als eigentlich zulässig ist. Er erhebt sich zum absoluten Herrscher in einem totalitären System und wiederholt bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass China in den kommenden Jahrzehnten in den Rang der ersten Weltmacht aufrücken wird“, schreibt unser Kolumnist Gerhard Spörl, der seit Jahrzehnten die internationale Politik beobachtet. |
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Obgleich es als Ursprungsland der Pandemie hart vom Coronavirus getroffen wurde, ist schon jetzt absehbar, dass China so gestärkt wie kein ein anderes Land aus dieser Krise hervorgehen wird. Nicht weil die Politbürobosse um Diktator Xi alles richtig gemacht hätten. Sondern weil der einzige echte Widersacher der chinesischen Machtausdehnung in dieser Krise so kolossal versagt: Kein Land hat mehr Infizierte und mehr Tote zu beklagen als die USA, in keinem anderen Industriestaat ist das administrative Chaos so groß und die Bevölkerung so krass gespalten, dass eine Versöhnung der gesellschaftlichen Schichten kaum noch denkbar erscheint. Hinzu kommt: Amerika hat seine Macht seit Jahren überdehnt. Noch heute blechen die amerikanischen Steuerzahler für das Multimilliardendebakel von George W. Bushs Irak-Feldzug. Der Unterhalt der atomaren und konventionellen US-Streitkräfte auf Stützpunkten rund um den Globus verschlingt weitere Unsummen; die Steuergeschenke der Kongressabgeordneten für Reiche und Superreiche rauben den Haushältern den letzten Spielraum. Amerika lebt seit Jahren auf Pump, und das Schuldenrad dreht sich so schnell, dass es sich kaum noch aufhalten lässt. Die Folgen der Coronakrise – unzählige Unternehmenspleiten, rund 40 Millionen Arbeitslose – verschlimmern die Lage schlagartig. |
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Man dürfe die amerikanische Fähigkeit, sich immer wieder neu zu erfinden, nicht unterschätzen, heißt es, und das ist sicher richtig. Trotzdem beginnt sich eine historische Weichenstellung aus dem Nebel der Zukunft zu schälen: Um langfristig den Staatsbankrott zu verhindern, müssen die USA ihren politisch-militärischen Apparat umbauen, was einen schrittweisen Rückzug vom globalen Machtanspruch voraussetzt. Die Alternative wäre dramatisch: mehr Konflikte mit dem raumgreifenden China, mehr Schulden, mehr Spaltung, mehr Überdehnung. Bis es irgendwann nicht mehr geht und die amerikanische Weltmacht erschöpft ihrem Niedergang entgegenwankt. Dann könnten sich unsere Nachkommen einer historischen Parallele entsinnen: Nach mehr als 400 Jahren endete am 4. September 476 das weströmische Reich mit der Absetzung von Kaiser Romulus Augustulus. "Gerade wegen seiner grenzenlosen Aggressivität war der römische Imperialismus zuletzt für seine Zerstörung selbst verantwortlich": Mit diesem Satz beendet der britische Historiker Peter J. Heather nach 526 Seiten sein Monumentalwerk "Der Untergang des Römischen Weltreichs". Wir sollten ihn in Erinnerung behalten, wenn wir die globalen Machtverschiebungen unserer Zeit beobachten. Empires rise and fall. |
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Das sehen Hunderte Millionen Fernsehzuschauer in China: Die Kulisse für die große Mitbestimmungssimulation im chinesischen Volkskongress. (Quelle: Ding Lin/XinHua/dpa) |
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Das sehen die Delegierten in der Großen Halle des Volkes: den großen Diktator Xi Jinping (links), Präsident genannt, und den kleinen Diktator Li Keqiang, Ministerpräsident genannt. (Quelle: kyodo/dpa) |
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Und das sehen die Diktatoren vom Podium aus: unzählige Claqueure nicken alles ab, was die Politbürobosse vorgeben. (Quelle: Wang Yuguo/XinHua/dpa) |
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